Frage 172:
Hatte Jesus Brüder? Im Evangelium steht an einer Stelle: „Deine Brüder sind draußen.“
Antwort:
In NT werden Brüder und Schwestern Jesu erwähnt: Mt 12,46 f par.; 13,55f par.; Jo 2,12; 73.5.10.; 20,17(?); Apg 1,14; 1Kor 9,5; Gal 1,19. Vier Brüder werden mit Namen genannt: Jakobus (der jüngere, Mk 15,40), Joseph oder Joses (die Orthographie ist in den Handschriften nicht immer gleich), Simon und Judas (Mt 13,55; Mk 6,3). Von den Schwestern sind keine Namen überliefert.
(I) Bei dieser immer wieder auftauchenden Frage ist das Sichere scharf vom Wahrscheinlichen und Unsicheren zu scheiden. Sicher ist, dass diese Personen nicht Brüder und Schwestern Jesu nach unserem heutigen Sprachgebrauch sind, d.h. sie waren keinesfalls Kinder Marias, sondern entferntere Verwandte, z. B. Vettern und Basen Jesu. Zwar haben im Griechischen, der Sprache, in der uns diese Überlieferung vorliegt, die Wörter Bruder und Schwester für gewöhnlich die gleiche Bedeutung wie heute bei uns: In diesem Falle aber sind wir berechtigt, die griechischen Ausdrücke als die wörtliche Übersetzung eines aramäischen Äquivalents zu betrachten, das in der urchristlichen palästinensischen Gemeinde zur Bezeichnung einer bestimmten, mit Jesus verwandten Personengruppe verwendet wurde; „Brüder des Herrn“ oder „Brüder Jesu“ war offenbar eine feste Redensart, vgl. Apg 1,14; 1 Kor 9,5. Wie u. a. aus dem AT zur Genüge hervorgeht (Gn 13:8: Lot ist „Bruder“ Abrahams; 14,14.16; 29,15), weicht der aramäische (und hebräische) Sprachgebrauch in dieser Hinsicht vom unsrigen ab. Das Wort Bruder (hebr. ??kh) umfasst in diesen Sprachen auch entferntere Verwandte wie Neffen, Vettern, weil ihnen die entsprechenden genauen Verwandtschaftsbezeichnungen fehlen. Man sagte z. B. «die Brüder», um Bezeichnungen wie «die Söhne des Oheims und die Söhne der Schwester der Mutter» zu umgehen (Lagrange). Dass die neutestamentlichen Schriftsteller in ihrem Sprachgebrauch sich der Mehrdeutigkeit des Begriffes adelfós bewusst waren, wird auch in Jo 1,41 angedeutet, wo Simon als der «eigentliche» Bruder des Andreas bezeichnet wird.
(II) Aus diesem Tatbestand ergibt sich die Möglichkeit, dass «Brüder Jesu» entferntere Verwandte bezeichnen kann und nicht Brüder im eigentlichen Sinne. Dass dem tatsächlich so ist, lässt sich folgendermaßen nachweisen.
(A) Die vier mit Namen bezeichneten «Brüder Jesu» Mk 6,3 (Mt 13,55) sind Söhne einer andern Mutter als der Mutter Jesu; die zwei erstgenannten, Jakobus und Joseph (Joses), werden sowohl bei Mt wie auch bei Mk später wiederum erwähnt, im Bericht über den Kreuzestod Jesu, und erscheinen dann als Söhne einer anderen Maria als der Mutter Jesu (Mt 27,56; Mk 15,40). Es ist zwar nicht völlig unmöglich, dass in diesem Bericht andere Personen gemeint sind. Erwähnt aber ein Schriftsteller ein Brüderpaar mit Namen und wiederholt er später in seiner kurzen Schrift die gleichen Namen ohne weitere Erklärung, so muss man annehmen, dass die gleichen Personen gemeint sind. Aus diesem Tatbestand geht ebenfalls hervor, dass die beiden anderen (Simon und Judas), die noch später, noch weiter von Jesus entfernt sind, auch nicht Brüder in unserem Sinne sind; es ist wahrscheinlich, dass diese Personen Vettern anderer Herkunft darstellen, zumal sie in Mt 27,56 ; Mk 15,40 nicht erwähnt werden.
(B) Diese Folgerung wird dadurch bestätigt, dass nach dem Evangelium Jesus als der einzige Sohn Marias und das einzige Kind in der Heiligen Familie erscheint. Maria war bei der Geburt Jesu Jungfrau (Mt 1,23; Lk 1,27) und hatte die Absicht, Jungfrau zu bleiben ( Lk 1,34).; im Alter von zwölf Jahren ist Jesus allen Anzeichen nach noch der einzige Sohn Marias (Lk 2,41-52); nirgends werden die «Brüder Jesu» (die erst während des öffentlichen Wirkens auftreten) Söhne Marias und/oder Josephs genannt; am Kreuze vertraut Jesus seine Mutter dem Johannes, einem seiner Jünger an (Jo 19,26), eine Tatsache, die erst völlig verständlich wird, wenn Maria neben Jesus keine anderen Kinder hatte.
(C) Aus den unter (B) angeführten Stelle geht mit großer Wahrscheinlichkeit auch hervor, dass die «Brüder Jesu» keine Kinder Josephs aus einer früheren Ehe waren, wie z. B. das Protoevangelium Jacobi, Origines and Ambrosiaster (Migne Latinus 17,344f) gemeint haben. Wie das Verhältnis zwischen Jesus und seinen «Brüdern» positiv zu werten ist, kann nicht mit Sicherheit erwiesen werden; diese Tatsache beeinträchtigt aber den negativen Teil der Beweisführung keineswegs. Eusebius (Hist. Eccl. IV, 22,4) führt eine Stelle aus Hegesippus an, aus der hervorgehen würde, dass Simon und Judas die Söhne des Kleophas (vgl. Jo 19,25) waren, dieser Kleophas aber ein Oheim Jesu, d. h. ein Bruder des hl. Joseph. Ihre Mutter wäre dann „Maria des Kleophas“, die unter dem Kreuz Jesu stand. Jakobus und Joseph (Joses) hätten zur Mutter die von Johannes erwähnten “Schwestern der Mutter Jesu“, die Mk 15,40 Maria heißt und deshalb wohl keine leibliche Schwester der heiligen Jungfrau gewesen sein kann. Ihr Vater wäre Alphäus (Mt 10,3), sofern man Jakobus, den «Bruder» des Herrn, mit Jakobus Alphaei, dem Apostel gleichsetzen darf; diese Gleichsetzung wird aber nicht von allen Exegeten gebilligt. In dieser Erklärung würde Jo 19,25 vier Personen erwähnen. Andere möchten den Alphäus mit Kleophas gleichsetzen und finden deshalb in Jo 19,25 nur drei Personen aufgezählt. Nach dieser Auffassung wären die vier «Brüder» des Herrn untereinander leibliche Brüder und hätte unter dem Kreuze, abgesehen von der Mutter Jesu und Magdalena, nur eine «andere Maria» gestanden. Diese andere Maria wäre dann die Frau des Kleophas (Alphäus), die Mutter der vier «Brüder» des Herrn und Schwester Marias, der Mutter Jesu (Jo 19,25). (Leicht gekürzter Text von W. Grossouw, art. „Brüder Jesu“ in H. Haag (ed.), Bibel –Lexikon. Einsiedeln/Zürich/Köln, 1956), S. 262f.