Frage 219:
Warum hält der Vatikan trotz der jüngst bekannt gewordenen Mißbrauchsfälle weiterhin am Zölibatsgesetz fest?
Antwort:
„Sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch katholische Geistliche ist ein besonders abscheuliches Verbrechen. Denn ein Priester befindet sich den Opfern gegenüber in einer Vaterrolle, so dass der Tat etwas Inzestuöses anhaftet. Auf diese Weise kann das Grundvertrauen in die Verlässlichkeit menschlicher Beziehungen verlorengehen, und es darf gerade der Kirche nicht gleichgültig sein, wenn damit auch das Vertrauen auf Gott zerstört oder schwer geschädigt wird“ (Manfred Lütz, „Die Kirche und die Kinder“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. 2.2010, S. 31).
Im Zusammenhang mit wünschenswerten seriösen und informierten Diskussionen zu diesem Thema wird nicht selten pauschal behauptet, es gebe eine ursächlichen Zusammenhang zwischen der Ehelosigkeit des Priesters [zu der sich im lateinischen Ritus der römisch-katholischen Kirche der Weihekandidat vor seiner Weihe zum Priester durch ein Gelübde verpflichtet] und den Übergriffen auf Kinder und Jugendliche. Fachleute aus vielen Disziplinen haben solchen Annahmen inzwischen widersprochen. Doch gewiss gibt es in der Frage nach dem etwaigen Zusammenhängen zwischen Zölibat und Missbrauchsfällen manches zu bedenken: Zunächst sorgt sich die Kirche, einschließlich der Priester und vieler anderer Berufe, wie wenige Institutionen in unserer Gesellschaft (abgesehen von Schulen aller Arten) täglich um eine sehr große Zahl von Kindern und Jugendlichen. Das erhöht zweifellos die Kontakt- und Konfliktmöglichkeiten. Ich hoffe, dass die derzeitige Diskussion, die unvermeidlich ist, vielen Frauen und Männern in zahllosen Einrichtungen der Kirche die integre Unbefangenheit im Umgang mit Kindern und Jugendlichen nicht raubt.
Die Kirche muss freilich nüchtern bedenken, inwieweit die priesterliche Lebensform in höherem Maß pädophil veranlagte Männer anziehen kann, zumal im Blick auf ein Engagement in kirchlichen Einrichtungen. In diesen Einrichtungen besteht nicht nur die Möglichkeit, vielen Kindern in einem geschützten Raum zu begegnen, sondern auch die Aussicht, durch die seelsorgliche Diskretion und die gesellschaftliche Tabuisierung unentdeckt zu bleiben. Die Verantwortlichen unserer Ausbildungsstätten haben diese Gefahr längst erkannt. Aber auch Gespräche mit Fachleuten und entsprechende Information können bei aller Wachsamkeit Fehlbeurteilungen im Einzelfall nicht immer ausschließen. Zweifellos bedarf es in dieser Richtung noch größerer Vorsicht und einer klaren Entschiedenheit“ (Karl Kardinal Lehmann; ‚Kirche der Sünder, Kirche der Heiligen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. April 2010, S. 6).
Es sei noch die dezidierte Auffassung des eben schon zitierten bekannten Kölner Psychiaters und Theologen Dr. Manfred Lütz angefügt. „Was immer man schließlich von der katholischen Sexualmoral halten mag, sie war jedenfalls auch in Zeiten der Verharmlosung von Pädophilie für jeden, der sich daran hielt, ein Bollwerk gegen Kindermissbrauch. Und den Zölibat in diesem Zusammenhang zu nennen ist besonders verantwortungslos. Auf einer Tagung 2003 in Rom erklärten die international führenden Experten ? alle nicht katholisch ? es gebe keinerlei Zusammenhang diese Phänomens mit dem Zölibat.“ (Manfred Lütz, a. a. O.)