Frage 81:
Was unterscheidet die Orthodoxen von den Katholiken und Protestanten? Was haben sie im Glauben gemeinsam?
Antwort:
Unter dem Begriff Orthodoxe Kirchen werden diejenigen Kirchen zusammengefasst, die das Christentum in der von Byzanz geprägten Form leben, wie sie sich im Osttteil des römischen Reiches entwickelt hat und von dort auch die Grenzen des Reichs, vor allem zu den Ostslaven hin, überwunden hat. Auch viele Orientalisch-Orthodoxe Kirchen verwenden die Bezeichnung Orthodoxe Kirchen für sich selbst. Sie unterscheiden sich von den Orthodoxen Kirchen durch Liturgie und Dogma (allerdings wurde 1990 eine Übereinstimmung in den dogmatischen, vor allem christologischen, Fragen erzielt), die katholischen Ostkirchen durch ihre kanonische Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom. Der Begriff „orthodox“, häufig mit „rechtgläubig“ wiedergegeben, heißt eigentlich „(Gott) auf recht Weise preisend“ und verweist so auf die zentrale Bedeutung der liturgischen Dimension des Lebens der Orthodoxen Kirchen.
Für die Orthodoxen Kirchen ist der Primatsanspruch des Bischofs von Rom (siehe unser Buch oben: Kap. 6, III, 1.2) bis heute der entscheidende Grund für die Aufrechterhaltung der Kirchentrennung von 1054. Die Verbreitung des Primats im Westen entsprang freilich nicht in erster Linie römischer Machtgier, sondern der Verantwortung für die Freiheit und Einheit der Kirche. Dieser Vorrang wurde oft mehr von außen an Rom herangetragen, als von Rom selbst gefordert. Zur Legitimation der Spaltung wurde und wird noch auf alle möglichen theologischen Detailfragen hingewiesen, wie etwa die Verurteilung der lateinischen Gebräuche des ungesäuerten Brotes bei der Feier des Messopfers, der Ehelosigkeit (Zölibat) der Priester oder eine leicht abweichende Formulierung im Glaubensbekenntnis, da so genannte Filioque.
Neben diesen entscheidenden Gründen für die Spaltung in Orthodoxe und Römisch-Katholische Kirche gehen unterschiedliche Stile von Frömmigkeit einher, so dass weniger der Glaube in seinen dogmatischen Setzungen als vielmehr die Art, Christ zu sein, den wesentlichen Unterschied zwischen Ost und West ausmachte und bis heute ausmacht.
Der Fortbestand des Römischen Reiches im Osten bedeutete die Fortführung von Reichskirche, die von Kaiser Konstantin (reg. 306-337) begründet worden war. Der Kaiser wurde als Stellvertreter Gottes auf Erden gefeiert. Er war christusähnlicher, weltlicher Priesterkönig, Träger allen Rechtes and selbst über den kirchlichen Verordnungen (Kanones) stehend. Seine Gewalt in der Kirche, in ihrer Lehrentwicklung, Gesetzgebung und Verwaltung wurde nur durch das göttliche Gesetz begrenzt. Unter diesem nicht ganz zu Recht als Cäsaropapismus bezeichneten theokratischen System waren Volkstum und Kirche sowie Kirche und Staat aufs engste miteinander verbunden. Die Patriarchen standen dabei deutlich unter dem Kaiser und handelten vielfach in seinem Auftrag. Diese Kirchenstruktur setzte sich dann auch fort, als das oströmische Reich untergegangen war und an seine Stelle nationale Herrscherhäuser traten wie die Zaren in Russland oder serbische und rumänischen Herrscher. In all diesen Fällen war es zu eigenständigen Patriarchaten gekommen. Die Ausübung der Religion war weitestgehend auf den kirchlich-liturgischen Raum beschränkt und verharrte über die Jahrhunderte in diesem Zustand. Zu großen Neuerungen kam es nicht, weder im Bereich der Theologie noch auf dem Gebiet der christlichen Philosophie, der Staatslehre oder der Kunst. Die Kirche lebte weiter, als sei die Zeit stehen geblieben.
Ganz anders verlief die Entwicklung im Westen Aus all den Untergangswirren des weströmischen Reiches ging der Papst gestärkt und letztlich als einzige intakte Führungsinstanz hervor. Er übernahm in der Folgezeit die geistige Führung in Mittel- und Westeuropa und stellte damit eine Art übernationales Bindeglied zwischen den Kircheprovinzen dar, von dem sich lokale und regionale Herrscher in ihren Machtansprüchen legitimieren ließen. Während in Osteuropa der Kaiser über dem Patriarchen stand und ihn unter seine Fittiche nahm, erschien das Machtverhältnis im Westen geradezu umgekehrt.
Im Verlauf der Zeit kam es im Westen, nicht zuletzt durch den Investiturstreit und seine Lösung, zu einer Zweiteilung der politischen und religiösen Bereiche, deren Bedeutung für die Entwicklung der abendländischen Geistesgeschichte nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Weder Osteuropa noch die Islamische Welt haben etwas Vergleichbares entwickelt und sind in der Folgezeit deshalb im Hinblick auf diese Frage weiterhin auf dem Stand der Entwicklung stehen geblieben, den sie zu Beginn des Mittelalters erreicht hatten. Nur Westeuropa hat diesen Stand verlassen und sich in neue Gefilde vorgewagt, getrieben vom dauernden Konkurrenzkampf zweier recht unterschiedlicher Machtblöcke, des kirchlichen und des kaiserlichen.
(Die letzten fünf Paragraphen folgen weitgehend Peter Antes, Mach’s wie Gott , werde Mensch. Das Christentum. Düsseldorf: Patmos, 1999. S. 110-112.)