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Geistlich und Weltlich

I. Muslime fragen

  • Das Christentum ist einseitig geistlich ausgerichtet, ausschließlich interessiert an der Rettung der Seele des Menschen im Jenseits. Was hat es zu sagen über das Leben – gerade auch das soziale und politische – im Diesseits?
  • Die Unterscheidung zwischen Staat und Religion ist dem Islam fremd; sie ist eine westliche und christliche Idee.
  • Das Christentum unterscheidet zwischen dem was Gottes und dem was des Kaisers ist. Wie sind dann Unternehmungen wie die Kreuzzüge und die Kolonisation zu verstehen, die im Namen des Christentums unternommen wurden?

 

II. Muslimische Sicht

 

Allgemein

 

Der Islam versteht sich als die letzte geoffenbarte Religion. Er erfüllt und überholt alle früheren Religionen. Das Judentum sei einseitig diesseitig orientiert, das Christentum einseitig geistlich. Der Islam dagegen ist die vollkommene, harmonische Religion des Mittelweges (vgl. Sure 5,3 und 2,143 – dîn wasat, nach der gängigen Interpretation). Der Islam betrifft Leib und Seele, soziales, politisches und religiöses Leben, Glück im Diesseits und im Jenseits. Das Christentum dagegen opfere den Leib der Seele. Es befasse sich nur mit Religion (dîn) und ignoriere Politik und Staat (daula). Es lege keinen Wert auf Glück schon in dieser Welt und setze dagegen all seine Hoffnung auf den Himmel.

 

Derartige Auffassungen sind unter Muslimen mehr oder weniger weit verbreitet.(46) Es ist zuzugeben, dass nicht wenige Züge des Bildes, das das Christentum im neunzehnten Jahrhundert bot, einer solchen grob vereinfachenden Sicht Vorschub geleistet haben. Typisch dafür sind Wendungen wie „die Rettung der eigenen Seele“ in „diesem Tal der Tränen“; eine weit verbreitete negative Sicht des Leibes und besonders der Sexualität, die zuweilen als der Hauptbereich des Sündigen herausgestellt wurde; die Auffassung des Christentums als einer privaten Religion und der Politik als einer „schmutzigen“ Sache u.a.m.

 

Viele Muslime betrachten das Mönchtum und die Praxis der Ehelosigkeit um des Glaubens willen als ein typisch christliches und das ganze Christentum prägendes Phänomen. Sie sehen in ihm eine „Flucht vor der Welt“ (al-firâr min al-dunya) verwirklicht, die sie aus „gesunder“ islamischer Sicht entschieden ablehnen.

 

Es ist jedoch anzumerken, dass diese traditionelle muslimische Sicht des Christentums in den letzten Jahren teilweise eine Wandlung durchgemacht hat. Muslime bekunden nicht selten ihr Interesse an den Bemühungen der christlichen Kirchen, im Bereich der Politik und öffentlichen Meinung Gehör zu finden für die Belange des Friedens und der Gerechtigkeit im Namen der Armen und der An-den-Rand-Gedrängten. Muslimische Denker sind an der Theologie der Befreiung interessiert, weil sie der politischen Unterdrückung und sozialen Ungerechtigkeit den Kampf ansagt.

 

Im Einzelnen

 

Die Einheit Gottes ist die zentrale Botschaft des Korans. Gleichzeitig hat sich der Islam, vom Koran unzweideutig auf die Praxis der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet, seit seinen Anfängen in Mekka an die Seite der Armen, der Waisen und der Machtlosen gestellt und gegen ihre Unterdrückung durch die Reichen gekämpft. Die Ankündigung der Auferstehung und des letzten Gerichtes durch Muhammad hatte von Anfang an die Absicht, die Reichen vor der Strafe zu warnen, die sie erwartet, falls sie sich nicht bessern. Diese Verkündigung, die sich auf die gesamte mekkanische Periode erstreckt, griff eine Gesellschaftsordnung an, die von den Interessen der Reichen beherrscht war. Sie führte in Mekka zur Verfolgung der kleinen muslimischen Gemeinde.

 

Nicht lange nach der Hidschra nach Medina im Jahre 622(47) entstand eine fest strukturierte Gemeinde um den Propheten. Sie erstarkte und brachte bald Mekka und ganz Arabien unter ihre Macht. Entsprechend befasst sich die koranische Offenbarung während der 10 Jahre in Medina (622–32) nicht nur mit Vorschriften über das geistliche Leben (Gebet, Fasten, Tugenden und Laster), sondern auch mit dem Leben in der Gesellschaft: Organisation des individuellen, familiären und sozialen Lebens (Verträge, Ehe, Erbschaft); Regelung des politischen Lebens (Vorschriften für die Kriegsführung und die Verteilung der Beute, Pflichten der Anführer, Verpflichtung zur gegenseitigen Konsultation); und schließlich den Alltag betreffende Rechtsbestimmungen, einschließlich der Regelung des Status der Nichtmuslime.

 

Logischerweise wurde die muslimische Tradition von dieser historischen Entwicklung und den damit verbundenen Akzentsetzungen im Text des Korans geprägt und entwickelte aus ihr die Theorie des Islam als einer allumfassenden Lebensordnung, die allen Bedürfnissen des Menschen gerecht wird: denen des Leibes und der Seele, individuellen und sozialen und politischen. Al-Islâm dîn wa daula: Der Islam ist sowohl Religion als auch Staat. Er ist befasst mit dem Diesseits (al-dunya) und dem Jenseits (al-âkhira) des Menschen. „Der gute Muslim ist nicht der, der sich so sehr um das gegenwärtige Leben sorgt, dass er das zukünftige aus der Sicht verliert; der gute Muslim ist nicht der, der dieses Leben für das kommende aufopfert; vielmehr ist der gute Muslim derjenige, der sowohl das gegenwärtige als auch das künftige Leben recht zu nützen versteht“ (Hadis).

 

Der Islam lehnt zwar die Trennung von Geistlichem und Weltlichem (bzw. Zeitlichem) ab, erkennt jedoch ihre Unterscheidung an. Die klassischen Traktate unterscheiden zwischen Akten der Gottesverehrung (’ibâdât), die als unveränderlich angesehen werden, und sozialen Beziehungen (mu’âmalât), die als veränderlich gelten. Ein Hadis gibt folgende Antwort Muhammads an jemanden wieder, der eine Frage über das rechte Verhalten in der Welt gestellt hatte: „Ihr wisst mehr über die Dinge dieser Welt als ich“ (Antum a’lamû bi-amri dunyâ-kum). Der Kommentar des Baydâwî(48) zu Sure 43, 63 fügt hinzu: „Das ist der Grund, warum die Propheten eben nicht gesandt wurden, um weltliche Dinge zu erklären, sondern nur die religiösen.“

 

Im Islam ereignete sich die Bewegung von einer die sozialen Strukturen in Frage stellenden moralischen und sozialen Lehre hin zur Errichtung einer Staatsreligion während der Lebenszeit des Gründers, d. h. während der Periode der koranischen Offenbarung selbst. In der unmittelbar darauffolgenden Geschichte des Islam ist der Kalif, d. h. der Nachfolger des Propheten, „der Schatten Gottes auf Erden“ und „der Befehlshaber der Gläubigen“ (amîr al-mu’minîn). Er und seine Vertreter sind mit weltlicher, nicht vorrangig mit geistlicher Macht betraut, denn der Islam kennt weder eine religiöse Hierarchie noch ein offizielles Lehramt. Dennoch tragen die Kalifen religiöse Verantwortung für „das Befehlen des Guten und das Verbieten des Bösen“ (al-amr bi-l-ma’rûf wa-l-nahy ’an al-munkar). Der Islam ist nach Louis Massignon (1883–1962) „eine egalitäre Laientheokratie“. Seit der Schaffung der modernen muslimischen Staaten ist daher der Islam als Religion und Staat (dîn wa daula) logischerweise die Staatsreligion (dîn al-daula) geworden, von wenigen Ausnahmen wie etwa Syrien oder Jemen abgesehen. Dagegen sind außerhalb der arabischen Welt eine Reihe von Staaten mit einer großen muslimischen Mehrheitsbevölkerung säkular organisiert und scheinen so bleiben zu wollen (Türkei, Senegal, Mali, Niger, etc.).

 

Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts sind sich einige muslimische Denker der Nachteile einer Staatsreligion bewusst geworden. Einerseits engt in einer solchen politischen Ordnung die Religion den Staat ein, der leicht zum Instrument einer religiösen Ideologie werden kann. Nicht zuletzt die Religion im engeren Sinn leidet in einer solchen Struktur. Sie wird nicht selten zu einem Instrument der herrschenden Partei, so dass etwa Predigten in den Moscheen unter der Kontrolle von Regierungsbeamten stehen. So ist auch in der islamischen Welt schon vor Jahrzehnten der Ruf nach einer Trennung von Religion und Politik laut geworden, ja selbst der Ruf nach dem säkularen Staat.(49)

 

Diese Ideen haben in Ägypten, Syrien, im Maghreb und in Pakistan ein Echo gefunden, ganz zu schweigen von sozialistischen und marxistischen Denkern überall in der islamischen Welt. Andererseits widersprechen ihnen konservative Kreise heftig.(50) Sie bezeichnen die Idee eines säkularen Staates als „eine westliche und christliche Häresie“ und gehen so weit, modernen muslimischen Staaten Untreue gegenüber dem Koran vorzuwerfen. Zahlreiche Muslime schwanken zwischen diesen beiden Tendenzen, der vollständigen Integration und der totalen Trennung von Religion und Staat. Einerseits schätzen sie die Vorteile einer Staatsreligion, sofern sie für Religionsunterricht in den Schulen sorgt und der Gefahr einer schwindenden Glaubenspraxis entgegenwirkt. Anderseits sehen sie auch, dass eine staatlich etablierte Religion kaum einen echten, persönlich verantworteten und um seiner selbst willen gewählten Glauben fördert.

 

III. Christliche Sicht

 

1. Christliche Anthropologie

 

Weder das Alte noch das Neue Testament wissen etwas von einer Trennung von Leib und Seele und einer Abwertung des Leibes. Nach der Bibel ist das menschliche Wesen ein Leib, ausgestattet mit Leben und Geist. Nach älteren biblischen Vorstellungen stirbt das ganze Wesen oder geht in die Scheol. Es brauchte eine lange Zeit, bis Aussagen zur Auferstehung in die biblischen Bücher Eingang fanden (Dan 12,2–3). Erst ganz am Ende des Alten Testaments, vor allem in den Weisheitsbüchern, wird von der „Auferstehung der Gerechten“ gesprochen. Im Neuen Testament gehört die Auferstehung Jesu und in ihm der Gläubigen zum Kern der Botschaft. Die Menschen werden leibhaft auferstehen.

 

Der Leib wird als „geistlicher Leib“ an der Vollendung teilhaben (vgl. 1 Kor 15,44). Wenn Paulus sagt, dass das „Fleisch“ das Reich Gottes nicht erben kann (1 Kor 15,50) und dass die Glaubenden sich nicht vom „Fleisch“ bestimmen lassen sollen (vgl. Röm 8,4–9), so bedeutet dies keine Missachtung des Leibes und der leiblichen Dimension des Menschen. „Fleisch“ (griech. sarx) – im Unterschied zum „Leib“ (griech. sôma) – meint vielmehr den Menschen in seiner Sündigkeit und seinem Widerstand gegen Gott. Daher gilt es, sich nicht vom sündigen „Begehren des Fleisches“, sondern vom Geist Gottes führen zu lassen (vgl. Gal 5,13–26). Durch den Geist Gottes wird der Leib des Menschen nicht überwunden, sondern gerade lebendig gemacht (vgl. Röm 8,11).

 

Durch den Einfluss der griechischen Philosophie Platons (427–347 v. Chr.) und Plotins (205–270) auf das christliche Denken in den frühen christlichen Jahrhunderten kommt es dann zu einer Betonung der menschlichen Seele in Absetzung vom Leib des Menschen.(51) Vor allem in der Gnosis führt dies zu einer eher leib-, welt- und geschichtsfeindlichen Grundeinstellung, die sicher auch im Christentum ihre Wirkungen hatte. Die Kirche hat sich aber auch von der Gnosis abgegrenzt. Gerade der Glaube, dass nicht nur die Seele des Menschen vollendet wird, sondern auch der Leib auferstehen wird, bedeutet die Zurückweisung eines einseitigen Spiritualismus. Der Mensch ist von Gott als Leib-Seele-Einheit erschaffen. Der ganze Mensch in all seinen Dimensionen (z. B. auch in seiner Sexualität) soll von der Macht der Sünde und des Todes befreit und zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes geführt werden (vgl. Röm 8,21).

 

2. Religion und Staat. Glaube und Politik

 

Geschichtlich gesehen, haben sich Christentum und Islam in vergleichbarer Weise entwickelt. An ihrem Beginn verkündeten sie eine geistliche Botschaft mit sozialen Implikationen, eine Botschaft, die Fragen über ungerechte politische und soziale Strukturen aufwarf. Gerade der Erfolg der religiösen Botschaft gab ihnen eine vorherrschende Stellung in der Gesellschaft, bis dahin, dass beide, Christentum und Islam, Staatsreligionen wurden.

 

Das Christentum wurde erst im vierten Jahrhundert seiner Geschichte, unter den Kaisern Konstantin (reg. 306–337) und Theodosius I. (reg. 379–395), Staatsreligion. Im Neuen Testament gibt es allerdings nirgendwo einen Anhaltspunkt für die Idee eines „christlichen Staates“. Jesus gründete weder einen Staat noch errichtete er eine christliche Gemeinschaft in Konkurrenz zu anderen politischen Gemeinschaften. Der Christ ist ein Bürger unter anderen, ausgestattet mit denselben Rechten und Pflichten wie jeder andere Bürger, selbst wenn die herrschende Elite eines solchen Staates heidnisch sein sollte.(52)

 

Im Blick auf diese Probleme kann die Sicht Jesu und des Neuen Testaments in einer zweifachen Ablehnung resümiert werden:

 

– Weltliche Ehre und Macht wurden zurückgewiesen zugunsten des Reiches Gottes. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36); „So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ (Mt 22,21 par.; Mt 17,27), was auch bedeutet: Achtung der Rechte und Ansprüche der weltlichen Herrscher, deren Autorität von Gott kommt. Immer wenn die Menge ihn zum König machen wollte, entzog sich Jesus (Joh 6,15; 12,12–36; Palmsonntag). Die Ursache für den Tod Jesu war unter anderem die Enttäuschung des Volkes über seine Ablehnung der weltlichen Macht, denn es erwartete einen triumphierenden Messias. Ein „triumphalistisches“ Christentum, das sich weltlicher Macht erfreut und diese für sich in Anspruch nimmt, steht im Widerspruch zum Evangelium. Christentum ist „die Religion des Kreuzes“, und der einzige Erfolg, den es sucht bzw. suchen sollte, ist die Bekehrung der Herzen zu dem einen Herrn.

 

– Das Christentum lehnt jegliche Ungerechtigkeit im politischen und sozialen Umfeld ab. Jesu eigenes Leben bestand aus einer dauernden und manchmal offen ausgetragenen Konfrontation mit jeglicher religiöser oder säkularer Herrschaft, die die Menschenrechte, besonders die Rechte der Armen, verletzte. Dies war eine weitere Ursache für seinen Tod. Die Frohbotschaft vom Reich Gottes, die besonders den Armen verheißen ist, muss den Forderungen des Kaisers (d. h. der weltlich-politischen Macht ) vorgezogen werden.(53) Die Liebe zu Gott ist von der Liebe zum Nächsten nicht zu trennen; Liebe zu den Menschen ist der Beweis für die Liebe zu Gott. Im Extremfall kann dies bedeuten, das eigene Leben für den Nächsten hinzugeben (Joh 15,13; Mt 25,40; 1 Joh 3,16; 4,20). Konflikte können bis hin zur Selbsthingabe des Christen für seine Brüder und Schwestern führen, möglicherweise bis zur Auflehnung gegen eindeutige Ungerechtigkeit. Politisches Engagement in diesem Sinne ist integraler Bestandteil des christlichen Auftrags.

 

Von der Zeit der Kaiser Konstantin und Theodosius I. an wurde das Christentum für Jahrhunderte Staatsreligion. Es hat diesen Status in einigen Staaten in abgeschwächter Form bis heute behalten. Außerdem führte die Ohnmacht bzw. das Vakuum politischer Strukturen während des Endstadiums des Römischen Reiches das Papsttum dazu, weltliche Macht zu übernehmen. Das war der Ursprung des Kirchenstaates. Als dann praktisch alle Bewohner Christen waren, kam es zur Zweischwertertheorie, d. h. der Lehre des geistlichen und des weltlichen Schwertes, beide vereint in den Händen des Papstes, der sich für beauftragt erachtete, Könige und Kaiser einzusetzen. Diese Vereinigung der beiden Gewalten in einer Institution und Person führte dazu, dass die Kirche Unternehmungen sanktionierte oder gar selbst in die Wege leitete und durchführte, die eindeutig im Missklang, ja Widerspruch zum Geist des Evangeliums stehen: Kreuzzüge, imperialistische und koloniale Unternehmungen, Inquisition und „Weltlicher Arm“.(54)

 

Das Zweite Vatikanische Konzil vollzog einen entscheidenden Schritt der Rückkehr zum Geist des Evangeliums.(55) Es verlangte die Unabhängigkeit der Kirche (bzw. der Religion) von der politischen Macht, und der politischen Macht von der Kirche (bzw. Religion), während es gleichzeitig dazu auffordert, zusammenzuarbeiten bei der Lösung von Fragen, die beide betreffen. Es beanspruchte gleichzeitig das Recht der religiösen Gemeinschaften, Einfluss auf die Gesellschaft nach Maßgabe der Ideale des Evangeliums zu nehmen.(56) Für die evangelische Kirche ist die Barmer Theologische Erklärung von 1934 wichtig geworden.

 

3. Leben im Diesseits und im Jenseits

 

Die Auferstehung Jesu Christi leitet die Endzeit ein. Das ewige Leben hat schon begonnen: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ (Joh 11,25; vgl. 5,24; 1 Joh 3,14; Rom 6,5). „Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen“ (Joh 17,3; vgl. 3,15–16; 5,24; 6,40.47). Ewiges Leben hat begonnen, aber es ist noch nicht vollendet. Der Christ lebt in der Spannung zwischen dem „schon jetzt“ und dem „noch nicht“. Denn die Erwartung des vollendeten Heiles ist in der Auferstehung Jesu und im christlichen Glauben noch nicht total erfüllt worden. Die Welt soll mit der Kraft des Heiligen Geistes weiter verändert werden, mit dem Ziel einer größtmöglichen Annäherung an den Willen Gottes.

 

Die Vollendung der Schöpfung in Gottes Geist wird erst bei der Wiederkehr Christi erfüllt sein, die das Ende der Welt, und damit der Zeit und der Geschichte, markieren wird. Nicht eine andere Welt wird geboren werden, sondern diese Welt wird durch und durch erneuert und verwandelt sein, die gleiche Welt, in der wir leben, mit denselben Personen, aber umgeformt und vollendet. Diese Hoffnung ist keine bloße Utopie, denn sie gründet in Jesus Christus, in seiner Verkündigung, seiner Lebenshingabe und seiner Auferstehung. Zugleich bleibt die Hoffnung realistisch; der Christ weiß, dass die Besserung des Menschen und der Welt bis zur Wiederkunft Christi unvollkommen bleibt.(57)

 

Der christliche Glaube verlangt den vollen Einsatz im Dienst an der Welt, um dazu beizutragen, dass die Botschaft des Evangeliums die Welt durchdringt und zu ihrer wahren Bestimmung führt. Das Evangelium verlangt auch das Eintreten für das Wohlergehen der Menschen. Dieses kann verschiedene Formen annehmen: die Mitarbeit in einer politischen Partei, die an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit das geeignetste Mittel sein kann, evangelische Werte zusammen mit anderen – auch mit Nichtchristen und Atheisten – in die Praxis umzusetzen; oder die aktive Mitarbeit in einer Gewerkschaft; oder ein sozialer Dienst dieser oder jener Art. Auch das kontemplative Leben ist ein unabdingbarer Beitrag zur Erfüllung des menschlichen Lebens. Das Evangelium kann jedoch nie mit einem politischen Programm identisch sein. Der Einsatz des Christen schließt daher eine kritische Haltung gegenüber jedem politischen oder sozialen System ein, mit dem nötigen Respekt für die Autonomie der zeitlichen Strukturen und mit der nötigen Selbstkritik gegenüber sich selbst und der Kirche.(58)

 

IV. Christen antworten

 

1. Leib und Seele

 

Die Einheit des menschlichen Wesens ist zu betonen. Der Mensch ist als Abbild Gottes eine Einheit von Leib und Seele. Folglich gebühren auch dem Leib und damit auch der Sexualität Ehrfurcht und Respekt.

 

2. Religion und Staat

 

Der Missbrauch und Verrat des Evangeliums in der Geschichte des Christentums sind einzugestehen, wobei allerdings der historische Kontext jeweils in Rechnung zu stellen ist. Zugleich sollten Christen und Muslime einzeln und gemeinsam ihre Geschichte kritisch bedenken. Man fordere zur intelligenten Kritik der gemeinsamen christlich-islamischen Geschichte auf, und zwar von Seiten der Muslime wie der Christen.(59) Dabei gilt es, den Blick nicht nur zurück, sondern auch nach vorne zu richten und gemeinsam für ein politisches System einzutreten, das religiöse Freiheit und gegenseitige Achtung fördert.(60)

 

3. Diesseits und Jenseits

 

Der Glaube an das Leben nach dem Tod darf nicht zu Gleichgültigkeit und Rückzug aus dem Ringen mit den Problemen dieser Welt führen. Im Gegenteil, der Glaube sollte motivieren zum Einsatz für den Dienst an unseren Brüdern und Schwestern, besonders der Benachteiligten. Er sollte unsere Hoffnung und unser Verlangen stärken, für eine bessere Welt zu arbeiten, und uns gleichzeitig helfen, menschliche Projekte nicht mit dem Reich Gottes zu identifizieren. Das Ende der Zeit wird auch das Letzte Gericht bedeuten. Erst dann wird alle Gerechtigkeit umgesetzt werden. Im Letzten Gericht werden die Menschen nach ihren Werken beurteilt werden und besonders danach, wie sie sich gegenüber den Armen und An-den-Rand-Gedrängten verhalten haben. Hierin stimmen Bibel und Koran überein. Der Respekt gegenüber den „Rechten Gottes“ (huqûq Allâh) beginnt mit dem Respekt vor den Menschenrechten (huqûq al-insân). Das biblische Gebot der Gottesliebe schließt das Gebot der Liebe zum Menschen und damit den Respekt vor den Rechten des Menschen ein.(61)

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  • (46) Im 20. Jahrhundert finden sich entsprechende Aussagen etwa in den apologetischen Schriften der bedeutenden Reformer Muhammad ’Abduh (Ägypter, gest. 1905), Rashîd Ridâ (Syrer, gest. 1935) und des algerischen ‘âlim Ibn Badîs (gest. 1940).
  • (47) Siehe oben: Muhammad – Prophet.
  • (48) Al-Baydâwî (gest. um 1290) ist ein bekannter, vielzitierter Korankommentator. Sein Kommentar ist weitgehend eine Revision und Zusammenfassung des berühmten Korankommentars des al-Zamakhschari (gest. 1144).
  • (49) Der berühmteste Anwalt einer solchen Reform war der al-Azhar Scheich ’Ali ’Abdurrâziq. In seinem im Jahre 1925 veröffentlichten Werk Al-Islâm wa usûl al-hukm („Der Islam und die Wurzeln der Macht“ [franz. Übers. L. Bercher, in Revue des Etudes Islamiques, 1933/III und 1934/II. Der Text dieser Übersetzung zusammen mit einer eingehenden Würdigung des marokkanischen Gelehrten Abdou Filali Ansari in: Ali Abderrazik, L’Islam et les Fondements du Pouvoir, ed. Abdou Filali Ansari, Paris: Éditions Découverte, 1994]) legte er dar, dass die Botschaft des Koran wesentlich religiös sei und dass die Organisation eines muslimischen Staates keineswegs zum eigentlich prophetischen Auftrag Muhammads gehört habe. ’Abdurrâziq wurde von seinen Kollegen verurteilt. Ihrer Meinung nach stellt die medinensische Periode mit ihrer Betonung der sozialen und politischen Seite der Botschaft der Offenbarung die konstitutive Entwicklung und Vervollkommnung des prophetischen Auftrags und der prophetischen Karriere dar. Deshalb müssen muslimische Denker, die für die Trennung von Staat und Religion eintreten, den Koran in einer Weise auslegen, die – jedenfalls auf einer ersten Ebene – nicht übereinstimmt mit der muslimischen Tradition, wie sie sich seit der medinensischen Periode der Karriere des Propheten durchgehend artikuliert hat. Die Anhänger ’Ali ’Abdarrâziqs versuchen dagegen, ihre Glaubensgenossen davon zu überzeugen, dass die traditionelle Auslegung irrt.
  • (50) Besonders zu nennen sind hier die Muslimbrüder des Hasan al-Bannâ (1906–1949) und die Jamâ’at-i Islâmî des A. A. Maudûdi (1903–1979).
  • (51) Platon war der Ansicht, dass der Mensch im wesentlichen Seele sei, eingesperrt in den Körper, von dem sie sich zu befreien versucht, um frei von jeglichem Hindernis ihren Weg zu Gott zu finden. Die platonische Konzeption vom Menschen hat einen tiefgreifenden Einfluss auf das christlichen Denken bis in unsere Zeit gehabt. Heute ist unter dem Einfluss der modernen Anthropologie eine starke Tendenz erkennbar, zur biblischen Konzeption des Menschen zurückzukehren.
  • (52) Hinsichtlich der Pflichten des Christen gegenüber heidnischen Herrschern siehe: Röm 13,1–7; 1 Tim 2,1–2; Tit 3,1; 1 Petr 2,13–15.
  • (53) Es ist besser, Gott als den Menschen zu gehorchen (Apg 4,19; 5,29; vgl. Mt 10,18).
  • (54) Bis vor kurzer Zeit war gemäß den Aussagen offizieller Dokumente der christliche Staat die ideale Situation für die Christen, selbst wenn die Päpste, beginnend mit Papst Leo XIII. (gegen Ende des 19. Jahrhunderts) die Unterscheidung von Kirche und Staat (gegen die Idee des theokratischen Staates) verkündeten und den Staat an seine Pflicht erinnerten, die Vorrechte Gottes und seiner Kirche zu beschützen. Vgl. auch die Enzyklika „Immortale Dei“ Papst Leo XIII., vom Jahre 1885 (DH 3168) und die Dogmatische Konstitution über die Kirche („Lumen Gentium“) des Zweiten Vatikanischen Konzils, Nr. 38)
  • (55) Dies wird besonders deutlich in der Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis Humanae“, in der anerkennt wird, dass „gewiss bisweilen im Leben des Volkes Gottes … eine Weise des Handelns vorgekommen [ist], die dem Geist des Evangeliums wenig entsprechend, ja sogar entgegengesetzt war.“ (Nr. 12)
  • (56) Vgl. „Dignitatis Humanae“ (Nr. 4); „Gaudium et Spes“ (Nr. 76) und das Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe in der Kirche „Christus Dominus“ (Nr. 19–20).
  • (57) Die marxistische Utopie dagegen gibt vor, im Lauf der Geschichte die vollkommene Versöhnung der Gegensätze bewirken zu können.
  • (58) Vgl. die Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et Spes“ (Nr. 43), ein Text, der die Relevanz, aber auch die Transzendenz des Evangeliums gegenüber jeglichem politischen Programm hervorhebt.
  • (59) Das Christentum ist dazu geführt worden, seine geoffenbarten Quellen einer neuen, kritischen Prüfung zu unterziehen, und islamisches Denken sieht sich heute mehr und mehr vor dieselbe Herausforderung gestellt. Dies geschieht besonders unter dem Druck humanistischer und säkularistischer Bewegungen, die die Autonomie weltlicher Strukturen betonen, und aufgrund der historischen Erfahrung, die gezeigt hat, wie die enge Verquickung mit der Politik den wahren Geist der Religion entstellen kann. Das führt einige Denker in manchen islamischen Ländern dazu, für die Unabhängigkeit des Islam gegenüber dem Staat, bzw. des Staates gegenüber dem Islam einzutreten. Vgl. oben, Anm. 49.
  • (60) Die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils, bes. die Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis Humanae“, „Gaudium et Spes“ und die Enzyklika „Populorum Progressio“ sind dabei nützlich.
  • (61) Das Zweite Vatikanische Konzil lädt Christen und Muslime ein, „gemeinsam einzutreten für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen“ (Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra Aetate“, Nr. 3).
  • (62) Siehe Hans Bauer, Islamische Ethik. Nach den Originalquellen übersetzt und erläutert. Heft II. Von der Ehe (Das 12. Buch von al-Gazâli´s Hauptwerk [Ihyâ ’Ulûm al-dîn]. Halle: Max Niemeyer, 1917. (photomechanischer Nachdruck Hildesheim: Olms Verlag, 1979)
  • (63) Ebd. S. 48.

Kontakt

J. Prof. Dr. T. Specker,
Prof. Dr. Christian W. Troll,

Kolleg Sankt Georgen
Offenbacher Landstr. 224
D-60599 Frankfurt
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