Die Mitte des Christentums
I. Muslime fragen
Es kommt vor, dass ein Muslim keine bestimmte, präzise Frage nach der einen oder anderen Lehre des Christentums stellt, sondern – sei es aus Neugier oder aus persönlichem Interesse – allgemeiner fragt: Was ist das Wesentliche und Unterscheidende des Christentums, was ist seine Mitte? So versucht dieses Kapitel zunächst aufzuzeigen, wie der Islam die Mitte des Christentums sieht und beurteilt und dann, wie das Christentum selbst diese Mitte versteht.
II. Muslimische Sicht
Allgemein
1. Allgemein gesprochen ist der Muslim tief von der Überzeugung geprägt, der Islam stelle die letzte, die vollkommenste und die umfassendste aller geoffenbarten Religionen dar. Andere Religionen, vor allem Judentum und Christentum, waren vor dem Islam gültig, sind jetzt aber überholt. Die wahre Religion ist der Islam, und nur ein Muslim kann gerettet werden.
Gleichzeitig kann ein Muslim durchaus offen sein für gewisse religiöse Werte, denen er im Leben von Christen begegnet. Dies wird jedoch nur sein Erstaunen mehren, dass Menschen, die dem Islam begegnet sind und ihn gar studiert haben, Christen bleiben, anstatt dankbar die Chance wahrzunehmen, im Islam als der wahren und letzten Religion alle Erwartungen erfüllt zu finden. Ist es vielleicht, mag der Muslim denken, eine emotionale, rational jedoch nicht zu rechtfertigende, Anhänglichkeit an die „westliche“ Religion und Kultur, die den Christen daran hindert, sich dem Islam zu öffnen? Oder gibt es andere Motive?
2. Andere Muslime werden genauere Argumente vorbringen. Die Religion Jesu sei der Islam, d. h. die Botschaft von dem Einen Gott und der Aufruf, ihm allein zu dienen. Die Christen hätten diese Botschaft jedoch schon sehr früh entstellt. Dabei wird besonders Paulus für diese Entstellung angeprangert. Für andere trägt die Verbindung der Kirche mit der Macht des Staates seit den Tagen Konstantins des Großen die Hauptschuld. Jedenfalls sei das ursprüngliche Evangelium Jesu von den Christen „verfälscht“ worden.(65)
3. Wieder andere Muslime sind der Meinung, die von der Bibelexegese herausgearbeitete Sicht des historischen Jesus und seiner Botschaft sei auch für Muslime bedeutsam. Dagegen weisen sie die zentralen Dogmen des christlichen Glaubens zurück, weil diese die eigentliche Botschaft Jesu uminterpretieren. Das Resultat dieser Uminterpretation oder „Verfälschung“ (tahrîf) seien die vier Evangelien des heutigen Neuen Testaments.
4. Eine faire, wenn auch recht subjektive Sicht hat der ägyptische Mediziner, Literat und religiöse Denker Kamil Hussein(66) vorgelegt. Nach ihm sei jeder, was die Gottesfurcht angeht, ein Jünger des Propheten Mose; was die Liebe zu Gott betrifft, ein Jünger Jesu und was die Hoffnung auf das Paradies beinhaltet, ein Jünger des Muhammad. Die Bedeutung des Christentums erklärt er sinngemäß so: „Tief in seiner Seele zu denken, dass das, was uns ruft Gutes zu tun, die Liebe Gottes ist, die uns ruft sowie die Liebe für alle, die Gott liebt; ferner alles zu vermeiden, was Menschen verletzt, weil Gott alle Menschen ohne Unterschied liebt, und schließlich zu wissen, dass wir Gott nicht lieben können, wenn wir Seinen Freunden, den Menschen, Schaden zufügen.“(67)
5. Man kann also heute bei Muslimen auf zwei gegensätzliche Wertungen des Christentums treffen:
a) Positiv: Das Christentum ist eine „Religion des Buches“. Es nimmt seinen Ursprung von Abraham so wie das Judentum und der Islam. Es ist eine geoffenbarte („himmlische“) Religion. Dabei stehen die Christen den Muslimen näher, stehen sie ihnen doch nicht feindlich gegenüber (Sure 5,82). Sie sind Gläubige, und alle Gläubigen sind Brüder (Sure 49, 10). Sie sind Monotheisten. Sie beten. Sie fühlen sich verantwortlich für das allgemeine menschliche Wohlergehen; das Christentum verlangt von seinen Anhängern, dass sie die Armen lieben.
b) Negativ: Christen sind Ungläubige (kuffâr), Polytheisten (muschrikûn). Sie beten einen Menschen an, Jesus, und machen ihn zu einem Gott. Sie glauben an drei Götter (neben Allah an Maria und Jesus). Ihr Glaube ist sehr kompliziert, während der Islam einfach ist. Ihre Schrift, das Evangelium, ist „geändert“, „verfälscht“ worden und liegt nicht mehr in Originalform vor. Ihre Religion ist durch den Islam überholt. Die Kirche und ihr Lehramt haben die Freiheit des Denkens unterdrückt, haben die Wissenschaft verurteilt (siehe den Fall Galileo Galilei, 1564–1642). Die Christen weisen den Islam mit seinem Glauben an die radikale Einheit Gottes und an Muhammad als den letzten der Propheten zurück. Sie verrichten das Gebet nicht vorschriftsgemäß, sie fasten nicht. Ihre Religion ist einseitig spirituell, verlangt Unnatürliches wie die gottgeweihte Ehelosigkeit, verachtet den Körper und ist besessen von der Idee und Allgegenwart der Sünde.
Im Einzelnen
1. Im Koran werden zwei voneinander abweichende Positionen dargestellt: eine preist das Christentum, während ihm die andere feindlich gegenübersteht. Beide Tendenzen finden sich im gesamten Einflussbereich des Islam, gestern wie heute.
a) Die positive Tendenz: Wir begegnen ihr zuallererst in der rückhaltlosen Bewunderung für die prophetischen Personen, die Christen besonders teuer sind: Jesus, seine Mutter Maria, die Apostel, Johannes den Täufer, Zacharias, usw. Diese Bewunderung erstreckt sich auch auf das „Evangelium“ als ein Buch, das auf Jesus herabgesandt wurde und vom Koran anerkannt wird, allerdings nur in seinem ursprünglichen Text und seiner wahren, „unverfälschten“ Bedeutung. Auch gab es nach dem Zeugnis des Korans einige dem Islam nahe stehende Christen zur Zeit des Propheten: „Die nächsten in Liebe …“ (Sure 5,82), „milde und demütig“ (Sure 3,110.113.115; 4,55; 5,66), während die Beurteilung der Mönche und Priester recht zweideutig ausfällt (Sure 5,82; 24,36–37; 57,27; dann aber 9,31.34).
b) Die negative Tendenz: Sie betrifft hauptsächlich die christliche Lehre über Gott und Jesus. Die Christen haben Jesus zu einem Gott gemacht, und sie bezeichnen ihn als Sohn Gottes (Sure 4,71; 5,17.72; 43,59; 9,30–31); sie beten drei Götter an (Sure 4,171; 5,73.116), und sie geben vor, Jesus sei gekreuzigt worden (Sure 4,156; vgl. 3,55). Ferner „haben sie ihre Mönche und Priester zu Herren genommen neben Allah“ (9,31). Sie übertreiben in ihrer Religion (Sure 4,171) und sind durch verschiedene Ansichten über die Person Jesu (Sure 5,14; 19,37; vgl. 2,133.145; 3,61) in Sekten aufgeteilt. Sie bestehen darauf, nur als Christ könne man ins Paradies eingehen (Sure 2,111). Sie bezeichnen sich als geliebte Freunde Gottes und seine Kinder, Gott aber wird sie für ihre Vergehen bestrafen (Sure 5,18). Die Juden und Christen, d. h. „die Leute der Schrift“ „möchten gerne euch, nachdem ihr gläubig geworden seid, wieder zu Ungläubigen machen, da sie von sich aus Neid empfinden, nachdem ihnen die Wahrheit deutlich wurde“ (Sure 2,109, vgl. 3,110); und die Mönche (so wie auch die jüdischen Schriftgelehrten) in ihrer moralischen Verderbtheit „verzehren das Vermögen der Menschen“ (Sure 9,34).
Diese widersprüchliche Sicht reflektiert zweifellos die zwiespältige politisch-religiöse Haltung der damaligen Christen der arabischen Halbinsel zu Muhammad und seiner Botschaft, dem Koran: Einige akzeptierten die politische Vormacht Muhammads (wie z.B. die Bewohner der Oase Nadschran) andere, im Norden der Halbinsel, widersetzten sich. Diese Zwiespältigkeit spiegelt sich wider im Koran, sodass Christen das eine Mal zu der privilegierten Gruppe „der Leute des Buches“ gerechnet werden, das andere Mal aber zur unseligen Gruppe der Ungläubigen (kuffâr) und der polytheistischen Götzenverehrer (muschrikûn). Genau diese Zweideutigkeit hat die gesamte Geschichte der muslimisch-christlichen Beziehungen bis auf unsere Tage geprägt. So hängt die Weise, in welcher Christentum und Christen beurteilt werden – entweder als Ungläubige oder als „Leute der Schrift“ und Monotheisten –, zu einem guten Teil ab von dem friedlichen oder spannungsreichen Zusammenleben von Christen und Muslimen, genau so wie es schon zu den Zeiten des Propheten war.
2. In der islamischen Tradition und Theologie ist die gleiche doppelseitige Sicht präsent. Allerdings betonen sie eher die negativen koranischen Aussagen. Wir müssen uns dieses doppelten Erbes bewusst sein: auf der einen Seite die traditionelle Verurteilung der christlicher Dogmen und Vorschriften, nicht selten in Verbindung mit der als korrupt eingestuften westlichen Zivilisation und mit dem westlichen Neokolonialismus; auf der andere Seite die ebenfalls im Koran verwurzelte ganz andere Sicht, die das Christentum als eine der drei monotheistischen („himmlischen“) Religionen betrachtet und auf die Christen als Brüder und Schwestern im genuinen Glauben an Gott blickt (Sure 49,10, sofern denn die Christen als „Gläubige“ anerkannt werden).
Bei der negativen Sicht werden besonders drei Aspekte benannt:
a) Das Christentum „übertreibt“ die Beziehung zwischen dem Schöpfer und den Geschöpfen, indem es von einer gegenseitigen Liebe zwischen Gott dem „Vater“ und den Menschen als „seinen Kindern“ spricht;
b) es übertreibt auch durch seine Betonung des „spirituellen“ Aspektes, sodass sein ausschließliches Interesse dem jenseitigen Leben auf Kosten des diesseitigen gilt und die Seele auf Kosten des Leiblichen sowie das Individuum unter Vernachlässigung der Bedeutung der Gemeinschaftsdimension des Lebens betont wird. Der Islam ist dagegen die Religion des „vollständigen Menschen“;
c) schließlich respektiert das Christentum die Transzendenz Gottes nicht genügend, weil sie Jesus gleichzeitig als Mensch und Gott ansieht, also von „der Teilnahme des Menschen am göttlichen Leben“ spricht.
III. Christliche Sicht
Im Folgenden werden selektiv zwei Dimensionen des Christentums hervorgehoben:
1. Christentum als der Weg der Liebe
1. Die Bezeichnung Christ ist für die Anhänger Jesu zum ersten Mal in Antiochien (heute: Antakya, im Südosten der heutigen Türkei gelegen) belegt und zwar um das Jahr 43 n. Chr. Die Heiden bezeichneten die Anhänger Jesu Christi mit diesem Wort (Apg 11,26). Ein Christ sein heißt zu glauben, dass Jesus, der Prophet von Nazaret, der „umherging, Gutes tuend“ (Apg 10,38) und der am Kreuz starb und von den Toten auferstand, der Christus (der Messias) ist, derjenige, der von Gott ausgegangen ist als endgültige Selbstoffenbarung Gottes zu den Menschen. Christen versuchen, nach dem Vorbild und in der Kraft Jesu, ihre Beziehung zu Gott und ihren Mitmenschen in Übereinstimmung mit Gottes Willen im Dienst an den Menschen zu leben. Dieser Wille Gottes besteht darin, die Menschen, die ja alle berufen sind, Kinder Gottes zu werden, in der einen Liebe zu lieben, die Gott und in gleicher Weise den Brüdern und Schwestern gilt.
Ein Christ glaubt, dass Jesus, der am Kreuz starb, von den Toten auferweckt wurde und nun an der Herrlichkeit Gottes, seines Vaters, teilhat, immer und überall lebendig und gegenwärtig ist.
2. Während seines Lebens auf Erden offenbarte Jesus, dass Gott Vater ist: sein eigener Vater, der Christen Vater und der Vater aller Menschen (siehe z. B. Joh 5,18; 20,17; Mt 6,9 parr.). Dieser Gott-Vater wünsche, dass alle Menschen sich als seine Kinder verstehen. Indem Jesus das Verhältnis von Gott und Mensch in den Begriffen von Vater und Sohn fasst, wählt er den stärksten Vergleich, der Gottes Liebe zum Ausdruck bringen kann: die Liebe eines Vaters für seine Kinder.(68) Dabei impliziert diese Sichtweise für die Christen keine physische Vaterschaft zwischen Gott und seinen Geschöpfen.(69)
In der ihm eigenen Weise belebt Jesus eine wesentliche Lehre des Alten Testaments (der Tora): Gott liebt sein Volk mit leidenschaftlicher Liebe, wie eine Mutter ihr Kind liebt (Am 3; Ez 16); wie ein Gatte seine Ehefrau, selbst die untreue (Hos 1 und 2; Ez 16), liebt; wie ein Verlobter seine Verlobte liebt (Hld). Jesus offenbart die Fülle und Bedingungslosigkeit dieser Liebe Gottes für die Menschen. Diese ging weit über das hinaus, was man sich zu seiner Zeit vorstellen konnte. Denn zur Zeit Jesu bezog eine verbreitete Auffassung den wahren und einzigen Gott nur auf Juden und nur auf die Gerechten des jüdischen Volkes. Diese Lehre schloss vom „Reich Gottes“ nicht nur Nichtjuden, sondern auch Juden, die als öffentliche Sünder galten (wie z. B. die Steuerbeamten), und auch solche, die an ansteckenden Krankheiten wie Lepra litten, aus.
Jesus hat diese Vorstellung von den Beziehungen zwischen Gott und dem Menschen total umgedreht. Er verkündete, Gott sei allen Menschen in gleicher Liebe zugewandt. Gott, der Vater aller Menschen, liebe sie alle, ohne Unterschied. Wenn man überhaupt von einer „Vorliebe“ Gottes sprechen könne, dann beziehe sie sich auf diejenigen, die die Gesellschaft verurteilt und ausschließt: öffentliche Sünder (die Buße tun) und Heiden: „Die Steuereinzieher und Prostituierten kommen ins Reich Gottes vor euch“ (Mt 21,31; vgl. Mt 8,10; Lk 7,9.36–50).
Das ist der Grund dafür, dass Jesus in Übereinstimmung mit der Offenbarung Gottes als des universalen und barmherzigen Vaters, jederzeit bereit war, die zu empfangen, die sich an ihn wandten, um einen Weg aus ihrer Not zu finden– handelte es sich nun um materielle oder moralische Not, um die Armen oder die notorischen Sünder. Niemals wies Jesus jemanden zurück, er nahm Einladungen ebenso von gut situierten Leuten und Pharisäern wie von Steuereinziehern und Sündern an. Wurde ihm nicht vorgeworfen, er pflege Tischgemeinschaft mit Sündern (Mt 8,10; 11,19; 21,31; 9,10–13; Lk 7,9.36–50; 15,1–2.7.10; 19,7)? Ganz in diesem Sinn sagte er, er sei gekommen „nicht um die Gerechten zu berufen, sondern die Sünder“ (Mt 9,13; Mk 2,17; Lk 5,32). Er war streng mit denen, die stolz waren auf ihre „Gerechtigkeit“ und die gleichzeitig die „Sünder“, die Armen, die Heiden verurteilten (Mt 29,3.13–36; Lk 11,42–52; 18, 9–14). Denn, so lehrte er: „Im Himmel ist mehr Freude über einen reuigen Sünder als über 99 Gerechte, die der Reue nicht bedürfen“ (Lk 15,7.10). Dieses göttliche Verhalten gegenüber Sündern ist in wunderbarer Weise dargestellt im Gleichnis vom Verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) und in anderen Gleichnissen, die Gottes Barmherzigkeit zu ihrem Hauptthema haben (Lk 13–15).
Jesus kämpfte gegen alles, was die Menschen in Tugendhafte und Sünder trennend aufteilte. Er relativierte selbst einige der sakrosanktesten Vorschriften des jüdischen Gesetzes, wie z. B. bezüglich des Sabbats (Mt 12,8; Mk 2,27; Joh 5,6), oder des Gottesdienstes ausschließlich im Tempel von Jerusalem (Joh 4,20–21; 2.13–17). Denn „der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat“ (Mk 2,27). Wenn die Führer des jüdischen Volkes Jesus zum Tode verurteilten und darauf drängten, dass er von den Römern hingerichtet werde, dann auch deshalb, weil er Gottes voraussetzungslose Vergebungs- und Versöhnungsbereitschaft verkündet hatte. Diese Botschaft stellte nichts weniger als die Basis der Macht der Führer des Volkes in Frage. Gott der Vater schien mit diesen Anführern einer Meinung zu sein, indem er denen, die Jesus ans Kreuz brachten, freie Hand ließ. Aber „Gott überließ ihn [eben] nicht der ‚Macht des Todes‘ (Apg 2,27), sondern erweckte ihn von den Toten, ‚den Erstgeborenen von den Toten‘“ (Kol 1,18; Apg 26,23; Offb 1,5), und ließ ihn Platz nehmen zu seiner Rechten. „Dafür sind wir alle Zeugen“, sagte Petrus (Apg. 2,24–32). So ist Jesus wirklich der Herr, ausgestattet mit Gottes Autorität selbst, des Gottes, der Jesu Botschaft feierlich anerkannte und der bestätigte, was Jesus über Gott und Mensch gesagt hatte.
3. Diese Botschaft ist die Botschaft der schrankenlosen Liebe. Es ist die Liebe Gottes, der alle Menschen liebt und sie alle einlädt, seine Kinder zu werden, der „seine Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten, und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45).
4. Dem entspricht es, dass Jesus das Gebot der Liebe als das wichtigste Gebot im Gesetz angibt. „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken … Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,37.39). Schon das Alte Testament bindet Gottes- und Menschenliebe aneinander (Deut 6,5; Lev 19,18) und Jesus nimmt dies auf. Er macht es zu dem „neuen Gesetz“ (Joh 13,34), nicht nur, weil es bei ihm als die Zusammenfassung „des ganzen Gesetzes und der Propheten“ (Mt 22,40; 7,12; Lk 6,31) gilt, sondern weil durch Jesus dieser Liebe für Gott und den Nächsten eine neue Bedeutung gegeben wird.
Die Liebe Gottes, des Vaters aller Menschen, verlangt die Liebe für alle Menschen, die Gott ja alle als seine eigenen Kinder liebt. Für einen Juden zur Zeit Jesu war der jüdische Religionsgenosse der Nächste, der Nachbar, den es zu lieben galt. Für Jesus ist jeder Mensch, auch der Sünder und selbst der eigene Feind zu lieben; ja zunehmend wurde ihm und dem frühen Christentum deutlich, dass auch die Heiden und die Angehörigen anderer Religionen (Samaritaner, Syro-Phönizier, Römer usw.) in dieses Gebot eingeschlossen sind. Die Jünger Jesu werden aufgefordert, einander so zu lieben, dass „die Menschen erkennen werden, dass sie Seine Jünger sind“ (Joh 13,35; 15,12–17). Die Liebe schließt Feinde und Verfolger ein: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr davon erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist“ (Mt 5,43–48). Statt Böses mit Bösem zu vergelten, sollen sie Böses mit Gutem vergelten (Mt 5,38–42), sie sollen vergeben ohne Maß und Begrenzung (Mt 18, 21–22), genau so wie Gott vergibt (Mt 6,12; im „Vater Unser“), und so wie Jesus denen vergab, die ihn an das Kreuz nagelten (Lk 23,34). Das will nicht heißen, dass wir das, was böse und ungerecht ist, zulassen und ihm applaudieren sollen; es bedeutet, schlechten und ungerechten Menschen zu vergeben, denn nur Vergebung befreit jemanden vom Bösen und führt zur Versöhnung der Menschen mit Gott und untereinander.
Diese Liebe kennt keine Grenzen, da sie ja ein Abbild der Liebe Gottes ist, der vergibt, der versöhnt und der Frieden stiftet, und weil sie in dem Geschenk seiner selbst an den Anderen besteht, an Gott sowie an den Nächsten. Die Liebe sucht nicht ihren Vorteil. Sie besteht in der Hingabe ihrer selbst und somit auch im Ver-geben: „Es gibt keine größere Liebe als die, sein Leben hinzugeben für seine Freunde“ (Joh 15,13). Schließlich gab sich Jesus nicht damit zufrieden, über solche Liebe zu predigen; er lebte sie und er gab sein eigenes Leben hin für alle Menschen, auch für seine Feinde, denen er am Kreuz vergab.
Erst nach Jesu Tod und Auferstehung verstanden die Apostel und die frühen Christen richtig, dass der Kern des Lebens und der Lehre Jesu in der Liebe besteht, in Gottes Liebe zu uns und unserer Liebe zu Gott und unbegrenzter Liebe zu allen Menschen. Sie gingen so weit zu sagen, dass der wirkliche Test der Liebe zu Gott die Liebe zum Nächsten ist (1 Joh 4,20–21, und der ganze Brief); eine wirksame Liebe, „nicht bloße Worte, sondern etwas Reales und Aktives“ (1 Joh 3,18–19) – „Dies hat uns Liebe gelehrt: dass er, Jesus, sein Leben hingab für uns; so sollten auch wir unser Leben hingeben für unsere Brüder“ (1 Joh 3,16). Und in der Tat lebten die frühen Christen diese enge Gemeinschaft geschwisterlicher Liebe (Apg 2,42–46; 20,7–11). Im Nachdenken über die Botschaft und das Leben Jesu im Licht, das sie vom Heiligen Geist empfingen, begannen die Apostel schließlich zu verstehen: Wenn es Jesus in der angedeuteten Weise möglich war, so klar das Wesen dieser Liebe Gottes zu offenbaren und die Antwort darauf zu leben, dann war dies letztlich nur möglich, weil er „Sein Sohn“ war und zwar in einer sehr besonderen und einmaligen Weise, gesandt von seinem Vater, solche Liebe mitzuteilen. Denn Gott ist Liebe (1 Joh 4,8–16), und „seine Liebe wurde geoffenbart, als er seinen einzigen Sohn in die Welt sandte sodass wir Leben haben durch ihn“ (1 Joh 4,9). Dieser liebende Gott „wurde Fleisch und lebte unter uns, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen“ (Joh 1,14). Jesus, das Wort Gottes, ist die Offenbarung der Liebe Gottes, weil er Sein Sohn ist. Allerdings muss diese Offenbarung der Liebe in Jesus und durch ihn von der Menschheit als ganzer angenommen und weiterhin in die Tat umgesetzt werden bis zum Ende der Zeit, in der Kraft Gottes, des Heiligen Geistes, wirksam in der Kirche und über sie hinaus.
Paulus hat seinerseits betont, dass nur der Geist Gottes, gesandt von Jesus nach seiner Auferstehung (Joh 7,37–38; 16,7–15), es uns möglich machen konnte, Gott unseren Vater zu nennen (Rom 8,15; Gal 4,6), ihn und unsere Mitmenschen mit derselben Liebe zu lieben, die sie von Gott empfangen (1 Thess 4,9; Röm 5,5; 15,30; vgl. 1 Joh 4,7). In seinem ‚Hymnus auf die Liebe‘ besteht Paulus darauf, dass jede unserer Handlungen ihren Wert von der Liebe empfängt, und dass ohne Liebe selbst die kostbarsten Charismen wertlos sind (1 Kor 13).
5. Die christlichen Dogmen reflektieren die Bedeutung Jesu Christi in der Auseinandersetzung mit den religiösen und philosophischen Hauptströmungen der jeweiligen Zeit. Sie wollen den neutestamentlichen Glauben in verändertem Umfeld bewahren.
6. Folglich heißt Christentum, den Weg der Liebe zu gehen, dessen Quelle Gott selbst ist (1 Joh 4,7) und der uns in der Verkündigung sowie in Leben, Tod und Auferstehung Jesu, des Sohnes des Vaters, offenbart worden ist. Die Kirche Christi gründet auf dieser Liebe und lebt von ihr.
Die Ausübung der Autorität in der Kirche ist in erster Linie ein Dienst an der Gemeinschaft der Jünger Christi nach dem Bild der Liebe, die in Gott selbst lebt. Folglich verlangt die Ausübung dieser Autorität einen hohen Grad der dienenden Liebe zu Jesus (Joh 21,15–17: „Petrus, liebst du mich? …Weide meine Schafe“). Allerdings darf diese Gemeinschaft der Liebe unter Christen niemals narzistisch nach innen gerichtet sein. Sie ist wesentlich Zeugnis, „auf dass die Welt glaube“ (Joh 17,21). Es ist die Pflicht eines jeden Christen sowie der christlichen Gemeinschaften, Zeugen der Liebe in der Welt zu sein, im Einsatz für Gerechtigkeit, Versöhnung und Frieden: ein hohes Ideal, wohl kaum je in der Praxis voll verwirklicht. Es muss von jedem ständig neu angestrebt werden, nach dem Maß der empfangenen Gaben. Leider sind die Christen allgemein und die Kirche im besonderen im Laufe der Geschichte diesem Ideal immer wieder untreu geworden; diese traurige Tatsache muss anerkannt und ehrlich bedauert werden(70). Dennoch, die Frohbotschaft Jesu ist stets gegenwärtig und aktiv, heute ebenso wie gestern. Sie drängt die Kirche, nach dem Gesetz dieser Liebe zu leben und für ihre weitere Ausbreitung in der Welt zu arbeiten und alle Barrieren der Trennung zwischen menschlichen Wesen niederzureißen, seien sie nun rassischer, sozialer oder auch religiöser Art. Es gilt, gegen die „Wurzelsünden“ von Egoismus und Hass anzugehen. Jeder Christ ist in Christus berufen sich bedingungslos dafür einzusetzen, dass die Liebe den Sieg davontrage.
Exkurs: Islam und die Liebe Gottes
Zu behaupten, die Liebe zu Gott und zum Nächsten sei das zentrale und wesentliche Gebot des Christentums, heißt nicht, dass andere Religionen, und der Islam im besonderen, dieses zweifache Gebot schlechthin ignorierten, oder dass jeder, der von Liebe spricht und aus Liebe lebt, mehr oder weniger ein Christ sei. Es gibt einen Weg der Liebe, den wir im Islam finden und der von vielen Muslimen praktiziert wird, normalerweise ohne Bezugnahme auf die Lehre Jesu oder auf das Christentum.
1. Es sind nur einige wenige Verse des Korans, in denen die Liebe Gottes, sei es nun die Liebe Gottes zum Menschen (Gott, „der intensiv Liebende“: wadûd, zweimal, Sure 11,90; 85,14; Gott der seine Liebe – mahabba – auf Moses „geworfen“ hat, Sure 20,39), oder die Liebe der menschlichen Wesen zu Gott (viermal, Sure 2,165; 3,31; 5,54) ausgesagt wird, und es gibt zwei Verse, die von gegenseitiger Liebe zwischen Gott und „einem Volk, das Er liebt und das Ihn liebt“ sprechen (Sure 5,54 im Kontext des dschihâd – hier als physischer Kampf gegen die Ungläubigen als „Heiliger Krieg“ zu verstehen). Jedenfalls können wir aufgrund dieser Koranverse nicht sagen, dass die Liebe Gottes zum Menschen und des Menschen zu Gott im Islam ein zentrales Thema darstellen. Das Zentrum der koranischen Botschaft bildet Gott als der Eine und Einzige und als der gerechte und erbarmungsvolle Richter. Dennoch, Liebe ist ein Thema im Koran, im Hadis sowie in der Lehre des klassischen Islam, als Inhalt und als spezifische Vokabel, auf die sich die geistliche Tradition des Islam beziehen konnte und kann.
2. Diese geistliche Tradition ist vor allem die der muslimischen Mystiker, der Sufis. Beginnend mit der bewundernswerten Râbi’a im siebten Jahrhundert nach Christus sehen wir die Sufis, die die Liebe zu Gott (eher als die Liebe Gottes zu den Menschen) zur zentralen Achse ihrer Suche nach Gott gemacht haben. Von den großen Sufis der ersten islamischen Jahrhunderte wurde dieser „Weg der Liebe“ hinübergenommen in den orthodoxen Islam, an erster Stelle dank Muhammad al-Ghazâli (gest. 1111), der betonte, dass nur Gott es verdiene, geliebt zu werden, und der diese Liebe (mahabba) als den Höhe- und Schlusspunkt seiner geistlichen Suche betrachtete. Später verbreitete sich das Ideal der Liebe zu Gott durch die religiösen Bruderschaften über die gesamte muslimische Welt. Es wurde ein wichtiges Thema der Meditation, ganz und gar akzeptiert vom offiziellen Islam.
Diese Liebe zu Gott trägt sozusagen typisch islamische Gesichtszüge. Sie wird vor allem verstanden als Liebe des Menschen zu Gott, weniger als Liebe Gottes zum Menschen. Denn Liebe wird als ein Verlangen nach dem angesehen, was vermisst wird, und der Gott des islamischen Glaubens ist ganz frei von solcher „Abhängigkeit“. Diese muslimische Liebe ist ein Verlangen nach Gott, ein Verlangen, näher an ihn zu kommen, wobei jedoch jegliche Art einer liebenden Einigung zwischen Gott und Mensch strikt ausgeschlossen ist. Schließlich kann diese Liebe zu Gott auch die Liebe zu unserm Nächsten verlangen, aber in keiner Weise ist es so, dass die Liebe zu Geschöpfen auf die gleiche Ebene mit der Liebe zum Schöpfer gestellt werden kann und darf. Mancher muslimische Mystiker, unter ihnen Râbi’a und al-Ghazâli, waren der Auffassung, im Bestreben, sich ganz und gar Gottes Liebe zu verschreiben, sei es notwendig, sich von allen Geschöpfen so weit wie möglich zu distanzieren.
2. Christentum als der Weg zur Erfüllung des Menschen und der Menschheit
1. Für den Gläubigen, sei er Christ oder Muslim, ist der Mensch durch „Gottes Hände“ geschaffen und nach seiner Ähnlichkeit geformt, zu ihm kehrt er zurück. Dies ist die grundlegende Berufung des Einzelnen, der Menschheit, ja, der gesamten Schöpfung, die sich nach der Befreiung von allen Formen der Unterdrückung sehnt, um schließlich in Gottes Herrlichkeit einzugehen (Röm 8,19–25; Sure 81; 82; 99; 101). Diese gemeinsame Berufung begründet auch die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen über die Differenzen von Rasse, sozialer Stellung und Religion hinaus.
2. Der Stellung, die in der Struktur des islamischen Glaubensgebäudes der Koran einnimmt, entspricht die Stellung, die der Person Jesu, dem Wort Gottes selbst, im Christentum zukommt. Dabei ist das Christentum primär nicht eine Lehre, sondern ein Weg, der Weg der Nachfolge Jesu Christi. Jeder Mensch ist berufen, Gottes Adoptivsohn bzw. Adoptivtochter in Jesus Christus zu werden (Eph 1,5). Zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf waltet gegenseitige Liebe. Der Schöpfer ist Vater, die Menschen sind seine Kinder. Die Innigkeit dieser Beziehung übertrifft die zwischen Diener (’abd) und Herr (rabb) weit. Der Christ ist aufgerufen, Gott und alle Menschen zu lieben, weil alle Menschen Brüder und Schwestern Jesu und Kinder desselben Vaters sind.
Die Liebe zu Gott und zu allen Menschen ist die einzige wirkliche Erfüllung jedes Menschen. Sie geht weit über die natürliche Liebe zwischen Menschen hinaus. Denn Jesus verlangt, dass man Böses nicht mit Bösem vergelte, sondern immer wieder vergebe und sogar seine Feinde liebe. Niemand ist zu solcher Liebe aus eigenen Kräften fähig. Sie muss von Gott geschenkt werden. Das Geschenk besteht darin, dass wir unsere Brüder und Schwestern so lieben können, wie Gott sie liebt. Jesus selbst hat diese Botschaft gelebt bis zu seinem Tod am Kreuz. Den Glauben an diesen Gott abzulehnen – was immer die subjektiven Erklärungen, die der Atheismus bereitstellt, sein mögen –, bedeutet, den Menschen seines letzten Sinnes zu berauben.
3. Muslime und Christen befinden sich auf dem Weg zum Gottesreich. Doch wird die Erfüllung des Menschen in dieser Welt nie vollkommen realisiert sein. Die Hoffnung auf die totale Erfüllung ist die große Kraft, die den Menschen und die Menschheit vorantreibt. Fortschritt, in all seinen Bedeutungen, bleibt stets möglich bis zum Ende der Zeit und, auf der Ebene des individuellen Lebens, bis zum Tod. Dieser wird zwar von manchen als Beleg für die Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens angesehen, für den Gläubigen aber eröffnet der Tod Jesu am Kreuz den Weg für seine und aller Auferstehung. Er wandelt den Tod in einen Sieg über den Tod. Das Ende des menschlichen Lebens, das Ende der Welt am jüngsten Tag öffnet den Weg zum ,ewigen Leben‘, zu seiner letzten Erfüllung. Dann wird jeder Mensch Gott von Angesicht zu Angesicht sehen, im neuen Himmel und der neuen Erde. Dort wird die Menschheit und die gesamte Schöpfung ihre vollkommene und endgültige Verwirklichung finden (Röm 8,22–23).
4. Die Würde des Menschen beruht darauf, dass er nach dem Bilde Gottes (Gen 1,26–27 zitiert in 1 Kor 11,7; Kol 3,10; Jak 3,9), nach dem Bilde Christi (Joh 1,3; Röm 8,29; 1 Kor 8,6; Kol 1,16; Hebr 1,2) geschaffen wurde. Daher darf der Mensch niemals Mittel zu einem Zweck werden. Seine Rechte müssen von jeder Art von Macht, sei sie säkularer, religiöser, sozialer oder politischer Natur, respektiert werden.
Aber die menschliche Person kann ihre Erfüllung nur innerhalb einer Gemeinschaft von freien und unabhängigen Personen erreichen. Deshalb spielen Familie und andere Gemeinschaften auf der nationalen sowie der internationalen Ebene eine unabdingbare Rolle. Die Rechte der Einzelnen und die der Gemeinschaft müssen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Menschliche Gemeinschaften, säkulare und religiöse, dienen dem Gemeinwohl, wenn und insofern sie die Würde der einzelnen Person respektieren.
Exkurs: Muslimischer Humanismus
Das Christentum ist nicht die einzige Religion, die beansprucht, eine umfassende Sicht des Menschen, seines Ursprungs und seiner Bestimmung zu bieten. Der Islam stellt denselben Anspruch. Der muslimische Humanismus hat vieles gemein mit dem christlichen. Sofern jedoch der christliche Humanismus in Christus und der muslimische im Koran seine Mitte hat, gibt es wesentliche Unterschiede in der Akzentsetzung.
Der Koran lehrt: Gott erschuf den Menschen „mit seinen Händen“ (Sure 38,75), formte ihn aus Lehm (Adam: Sure 7,12; 23,12) oder aus dem männlichen Samen (wie alle anderen menschlichen Wesen: Sure 18,27; 22,5; 32,7). Dann hauchte Gott seinen ‚Geist‘ in ihn (Sure 15,29; 32,9; 38,72). Ein berühmter Hadis lehrt, in engster Anlehnung an Genesis 1,26, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde.
Der Mensch wurde geschaffen, um den Einen Gott anzubeten, ihm zu dienen, ihm zu gehorchen, ihn zu loben und zu preisen, ihm zu danken (Sure 4,1; 51,56; 3,190-191; 7,172; 30,17-18). Er ist eine sterbliche Kreatur (baschar), oftmals aufrührerisch. Dennoch hat er den Auftrag, den Glauben an den einen Gott zu bezeugen (Sure 7,172–173).
Wer dem einen Gott den Glauben verweigert, gleicht eher den Tieren (Sure 8,2.55; 22,18). Dem Menschen kommt ein hoher Rang zu. Nur dem Adam offenbarte Gott die Namen aller Tiere, etwas, was selbst die Engel nicht wussten (Sure 2,31–33). Daher fordert Gott die Engel auf, sich vor Adam, direkt nach dessen Erschaffung, niederzuwerfen. Nur Satan (Iblîs) weigerte sich, dies zu tun (Sure 15,31; 18,50; 19,44; 20,116; 38,74). Der Mensch ist der König der geschaffenen Welt, die Gott seinem Befehl und seinem Nutzen überantwortet hat (Sure 14,32–33; 16,12–14; 22,65). Er ist „Gottes Sachwalter auf Erden“ (Sure 2,30), eine Aussage, die häufig von modernen Autoren zitiert wird, die einen muslimischen Humanismus vertreten und fördern.(71)
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- (65) Manche Muslime sind der Überzeugung, dass dieses „verfälschte“ Evangelium in jüngster Zeit wieder ans Licht gekommen ist, und zwar dank der „Entdeckung“ des „Evangeliums des Barnabas“. In Wahrheit stellt dieses jedoch eine Fälschung aus dem 16. Jahrhundert dar, entweder seitens eines andalusischen Muslim, der gewaltsam zum Christentum konvertiert worden war, oder aber seitens eines Muslim, der in Venedig lebte. Vgl. Christine Schirrmacher, Der Islam, Band. 2 (Neuhausen/Stuttgart: Hänssler, 1994), S. 268–289.
- (66) Al-Wâdi al-Muqaddas (Das heilige Tal), Kairo, Dar al-Ma’ârif, 1968. Engl. Übersetzung: The Hallowed Valley. A Muslim Philosophy of Religion. Cairo 1977.
- (67) Vgl. ebd. S. 31.
- (68) Auch der Koran spricht von der Liebe Gottes in Worten, die eine starke menschlich-emotionale Resonanz haben: mahabba, mawadda, rahma.
- (69) Dieser Punkt wurde von dem großem muslimischen Gelehrten al-Bîrûnî (973– ca. 1050) sehr klar gesehen. Vgl. die relevanten Zitate im Kapitel: „Gott, der Dreieine“, S. 60 ff. und im Kapitel: „Die Gottheit Jesu“, S. 23 ff.
- (70) Siehe Kapitel: Die Kirche.
- (71) In einer tiefgründigen Reflexion über Sure 33,72 erklärt freilich der bekannte zeitgenössische Denker Muhammad Talbi (geb. 1921 in Tunis), wie Gott die „amâna“ (das anvertraute Gut des Glaubens, bzw. die Verantwortung für die „Regierung“ der Welt) den Himmeln, der Erde und den Bergen antrug, diese jedoch ablehnten, während der Mensch dumm genug war, sie zu akzeptieren. In dieser Annahme sieht Talbi die „tragische“ Seite der menschlichen Bestimmung (s. Comprendre [Paris], Nr. 98, Nov. 1970).